TEXT Lisa Breidthardt / FOTOS Mike Schäfer
AKTUELL
"Zeit hat zwei Seiten und ist tatsächlich mehr wert als Gold"
Eine ganz besondere Aktion startete die Quartierskünstlerin Ji Hyung Nam Mitte Juni in Dulsberg: Eine Woche lang verließ sie das Schaufenster in der Straßburger und ihr zur Bühne umgebautes Atelier nicht. In ihrer zweiten Performance erzählte sie die bewegte Geschichte des Dulsbergers Liviu Ursu, der zeitweise unter schweren Depressionen litt und seine Wohnung wochenlang nicht verließ. Dieses außergewöhnliche Kunstprojekt führte Ji Hyung Nam im Rahmen ihres Stipendiums der SAGA GWG Stiftung Nachbarschaft durch.
Die Geschichte von Liviu Ursu
In der Rolle des Liviu Ursu schilderte die Quartierskünstlerin die bedrückende Lebensrealität eines jungen Mannes, der unter den hohen Erwartungen seiner Eltern litt. In seiner Kindheit musste Liviu Ursu viel lernen und nebenbei im elterlichen Schuhgeschäft aushelfen. Trotz dieser Belastungen schaffte er es, an einer renommierten Universität zu studieren. Um sich sein Studium zu finanzieren, nahm er verschiedene Jobs an. Diese enorme Belastung führte jedoch zu einer tiefen Depression, die Liviu Ursu schließlich die Kraft raubte, das Bett zu verlassen.
Eine Woche hinter Glas
Für die Aufführung lebte Ji Hyung Nam sieben Tage lang im Schaufenster ihres Ateliers in der Straßburger Straße und verließ die Bühne weder zum Duschen noch zum Schlafen oder Essen. Nur die Toilette suchte sie dann und wann auf. Diese einzigartige 24/7-Darbietung bot den Zuschauern die Möglichkeit, jederzeit am Schaufenster stehen zu bleiben und das Geschehen zu beobachten. Über einen am Schaufenster angebrachten QR-Code konnten sie eine Tonspur abrufen, die weitere Einblicke in die Geschichte von Liviu Ursu gab.
Ein besonderes Novum der künstlerischen Darbietung war die Live-Übertragung auf Twitch. Während der sieben Tage konnten Interessierte Ji Hyung Nam in Echtzeit folgen und die Aufführung bequem von zu Hause aus erleben.
Ji Hyung Nam als Liviu Ursu
„Die Performance hat mich an meine Grenzen gebracht“
Ji Hyung Nam selbst fand nach der einwöchigen Performance eindrucksvolle Worte: „Es war eine Challenge, die mich an meine Grenzen gebracht und mich geprüft hat“, sagt sie. „Ich habe versucht, eine möglichst ähnliche Umgebung von Liviu Ursus damaliger Situation zu schaffen“. Der Raum, den sie nachbaute, war etwa 14 Quadratmeter groß und mit einem Schachbrettmotiv-Bodenbelag ausgelegt. Alle Möbel waren in Weiß und Schwarz gehalten, wie die Figuren in einem Schachspiel. „Sobald man im Raum stand, hörte man sehr dominant das Tick Tack Geräusch der Wanduhr.“
Ji Hyung Nam beschrieb auch die Härte dieser Erfahrung: „Ich habe nicht geduscht, nur Zähne geputzt. Mein Essen habe ich täglich zwei Mal mit einem Wasserkocher zubereitet: Instant Cup Nudeln. Bier trinken und rauchen war erlaubt, aber Sport machen, Bücher lesen und Sprechen war verboten.“ Ihre einzige Aufgabe bestand darin, im Bett zu bleiben und die Zeit zu überstehen. „Es war die längste Woche in meinem Leben. Ich habe mich noch nie einer Uhr so nah gefühlt. Ich habe jede Sekunde gespürt.“
Ji Hyung Nam gab zu, dass sie die Herausforderung anfangs unterschätzt hatte. „Tag eins begann mit meiner 20-minütigen Sonderaufführung. Danach lag ich im Bett. Da war ich noch aufgeregt, wie es jetzt weitergeht. In meinem Kopf haben Gedanken ihre Runden gemacht, bis ich nicht mehr denken konnte. Ich guckte auf die Uhr. Es war nur eine Stunde vergangen. Da hat mich die Angst gepackt. Ich wusste nicht, was ich in den verbleibenden 167 Stunden machen sollte.“
Die Erfahrung war tiefgreifend und aufschlussreich. „Zeit hat zwei Seiten und ist tatsächlich mehr wert als Gold und Möglichkeiten. Im Gegenteil ist Zeit auch das Gift, welches uns töten kann,“ reflektierte sie. „Nach einem schrecklichen ersten Abend im Zimmer habe ich schnell gemerkt, dass nur im Bett zu bleiben einer Art von Selbstmord gleichkommt.“ Nam kämpfte täglich mit der Sinnlosigkeit des Aufstehens ohne einen Zweck oder eine Bedeutung.
Die Performance war nicht nur physisch, sondern auch emotional belastend. „Während meiner Performance war ich sehr früh wach, was mich gequält hat, weil ich so viel Zeit hatte, aber nichts zu tun. Nur Denken, jedoch nichts machen können, war eine Qual.“ Die Quartierskünstlerin verglich ihre Situation mit der eines Geistes, der von der Welt unbemerkt bleibt: „Ich bin wie ein Geist. Menschen können mich vielleicht gar nicht sehen.“
Erkenntnisse eines herausfordernden Experiments
Die Woche endete mit wertvollen Erkenntnissen über die menschliche Natur und die Macht der Umgebung. Ji Hyung Nam betonte, wie schwierig es sei, in einer solchen Umgebung positiven Gedanken und Lebenswillen zu bewahren. „Während meiner Performance in dem Raum habe ich die meiste Zeit meinen eigenen Willen verloren.“
Die Reaktionen der Außenwelt waren ein Lichtblick für sie. Viele Menschen blieben am Schaufenster stehen und informierten sich über die Performance und die Thematik der Depression. Ein Dulsberger teilte nach der Aufführung seine Geschichte mit Ji Hyung Nam. „Ohne diese Performance hätten wir gar nicht darüber sprechen können,“ sagte er.
Ji Hyung Nam hofft, dass ihre Performance dazu beiträgt, das Bewusstsein für Depressionen zu schärfen und das Interesse an den Menschen in der Umgebung zu wecken. „Was mich am Ende sehr gefreut hat, ist die Entwicklung meiner Außenwelt. Am Anfang sind die meisten nur am Schaufenster vorbeigelaufen, doch zum Ende hin sind viele stehen geblieben und haben sich informiert.“
Ji Hyung Nam
Nach einem Studium der Innenarchitektur im südkoreanischen Seoul absolvierte Ji Hyung Nam ein Bühnen- und Kostümbildstudium an der Akademie der Bildenden Künste in München als Meisterschülerin unter Professorin Katrin Brack. 2017 erhielt Ji Hyung Nam für ihr Szenenbild der deutschen Comedy-Serie Produktion „Technically Single“ den Best Production Design Award beim Melbourne WebFest. Für ihr Projekt „Eva, Adam und Birne“ erhielt sie 2018 den START-UP Junge Künstlerin Preis des Europäischen Patentamts. Ihre Arbeiten waren unter anderem an den Münchner Kammerspielen, am Staatsschauspielhaus Dresden und am Deutschen Schauspielhaus Hamburg zu sehen.