TITELGESCHICHTE

Mehr Miteinander

Über Einsamkeit spricht niemand gern, dennoch ist sie für viele Realität. Neue Verbindungen zu knüpfen, kostet manchmal Überwindung – doch zu spät ist es nie. Wie es klappen kann.

TEXT Andrea Guthaus FOTOS Philipp Reiss

Ronja Schulz (vorne rechts) brachte den Frauen-Spaziergang nach Hamburg.

Der Himmel ist grau, die Tage sind kurz: Vielen Menschen schlägt der Winter aufs Gemüt. Gut, wer jetzt zusammen mit Familie und Freunden über Weihnachtsmärkte bummeln oder ins Kino gehen kann. Allein ist es schwieriger, der Dunkelheit ein Schnippchen zu schlagen. Tatsache ist: Hinter jeder zweiten Wohnungstür in Hamburg lebt jemand allein. Nicht alle, aber manche fühlen sich einsam. Vielleicht weil sie gerade eine Trennung hinter sich haben, vielleicht weil der Lieblingsmensch weggezogen ist oder weil die Kinder immer mehr mit sich beschäftigt sind. Studien zeigen, dass Einsamkeit nicht nur Ältere trifft, sondern gerade auch junge Leute.

 

Eine davon ist Ronja Schulz. Sie kam zum Studieren an die Elbe. Eigentlich sind das gute Startbedingungen für neue Kontakte, aber irgendwie hat es nicht gepasst: „Mir fehlten Freundinnen, um gemeinsam die Stadt zu erkunden.“ Also gründete sie kurzerhand den Hamburg Ladies Stroll. Die Idee: Per Instagram verabredet sich frau zum Spazieren, schlendert gemeinsam mit anderen, danach werden Telefonnummern getauscht. Und funktioniert das?

 

„Ich war jetzt zum zweiten Mal beim Ladies Stroll dabei. Mit ein paar Mädels haben wir uns zu einem Kneipenquiz verabredet“, sagt Teilnehmerin Katrin Williamson, die diesmal auch ihre Mutter mitgebracht hat. Die 62-Jährige Bettina Williamson findet: „Ein großes Potenzial, Menschen kennenzulernen.“

 

März hat Ronja Schulz den ersten Spaziergang veranstaltet. Mit ihrer vermeintlichen „Schnapsidee“ hat sie einen Nerv getroffen: „Das Feedback ist sehr positiv, hier entstehen viele neue Freundschaften.“ Inzwischen gibt es meist einmal pro Woche ein Angebot, von Ausflügen über gemeinsame Yogastunden bis hin zu Restaurantbesuchen. Teilnehmen dürfen ausschließlich Frauen: „Dating soll hier ganz bewusst nicht stattfinden“, sagt Ronja Schulz.

Ronja Schulz

Der Ladies Stoll ist häufig an der Alster unterwegs

Katrin Williamson und ihre Mutter Bettina auf dem Ladies Stroll

Ronja Schulz | © Philipp Reiss

Hier entstehen viele Freundschaften. Dating soll ganz bewusst nicht stattfinden.

Ronja Schulz, Gründerin des Ladies Stroll

Neue Kontakte zu knüpfen, das geht an ganz unterschiedlichen Orten. Mehrgenerationenhäuser und Stadtteiltreffs haben Angebote von der Malwerkstatt über den Mittagstisch bis zum Literaturtreff. Auch beim Sport, im Chor oder in der Volkshochschule können sich neue Bekanntschaften ergeben. Und Vereine suchen eigentlich immer helfende Hände – passende Projekte kennen die Freiwilligenagenturen. Vielleicht ist jetzt der richtige Moment, einen Tandempartner zum Sprachenlernen zu suchen oder bei der Freiwilligen Feuerwehr anzudocken.

 

Auch die SAGA macht sich für mehr Miteinander stark. Unser Tochterunternehmen ProQuartier arbeitet daran, Nachbarschaften so zu unterstützen, dass sich Menschen begegnen wollen und können: „Manchmal reicht eine Bank im Park oder vor einem Laden“, erklärt Quartiersexpertin Mareike Wiegmann. In einigen Wohnanlagen sind Hochbeete oder Gemeinschaftsgärten entstanden, wo Mieterinnen und Mieter zusammen Kräuter und Gemüse anbauen. Dazu kommen Aktionen, um die Nachbarschaft zusammenzubringen: vom Mitmachzirkus bis zum Sommerfest. In manchen Stadtteilen gibt es auch Bürgerhäuser, Stadtteiltreffs und Gemeinschaftsräume mit vielen Angeboten zum Dazukommen: Bastelrunden, Skatgruppen, Repaircafés oder Sportkurse.

 

Viele wollen sich für mehr Miteinander engagieren. Das ist natürlich toll.

Mareike Wiegmann, ProQuartier

Stadtteiltreff Striepensaal in Neuwiedenthal

„Wichtig ist, dass wir in einer dicht bebauten Stadt wie Hamburg den Raum mehrfach nutzen“, erklärt Mareike Wiegmann. Deshalb werden klassische Bolzplätze heute kaum noch gebaut: „Warum nur Fußball? Wir schaffen heute Plätze, wo nicht nur gekickt, sondern auch Basketball gespielt wird und Trimm-dich-Geräte stehen.“ Auf Spielplätzen ermöglichen Tischtennisplatten und Outdoor-Schach Begegnungen. Denn gerade die Coronapandemie hat gezeigt, wie wichtig der Kontakt mit anderen ist.

„Wir werden jetzt häufiger von Menschen aus den Quartieren angesprochen. Viele wollen sich für mehr Miteinander engagieren. Das ist natürlich toll, denn oft braucht es Freiwillige, die vor Ort Dinge anschieben“, betont Mareike Wiegmann.

Das Dorf in die Großstadt zu bringen, dieses Ziel verfolgt die SAGA mit dem Projekt LeNa. LeNa steht für Lebendige Nachbarschaft. Zielgruppe sind ältere Menschen. Alle Mieterinnen und Mieter leben in ihrer eigenen Wohnung, aber rundherum ist jede Menge los. Am LeNa-Standort in Barmbek-Nord stehen verschiedene Gemeinschaftsräume zur Verfügung. Hier wird zusammen Yoga und Englisch geübt, hier trifft sich die Tablet-Gruppe und es wird gemeinsam gekocht. Die Angebote sind offen, auch Menschen aus der Nachbarschaft können teilnehmen. Karaoke-Abend, Osterbrunch, Sommerfest – für Gesellschaft reicht ein Schritt aus der eigenen Tür: „Wir wollen den Stadtteil ins Haus holen, deshalb kooperieren wir zum Beispiel mit einem Kindergarten. In der Adventszeit kommen die Kinder zum Backen ins Haus“, erklärt LeNa-Koordinatorin Julia Hochfeld.

 

Nebenbei entstehen durch die Angebote Freundschaften. Manche Mieterinnen und Mieter fahren sogar zusammen in den Urlaub. Feuer und Flamme für das LeNa-Projekt ist Reinhart Münter. An vier Tagen pro Woche ist er im Haus, lernt hier Neues und kümmert sich um andere: „Hier leben auch Menschen, die sehr krank sind. Für sie sind die Besuchsdienste von Freiwilligen wie mir Gold wert. Zusammen eine halbe Stunde Kaffee trinken und schnacken, das reicht schon.“ Seit zwei Jahren ist Reinhart Münter aktiv bei LeNa. Denn als er in den Ruhestand gegangen ist, wollte er sich nützlich machen.

 

Mittwochs geht Reinhart Münter zum Tai-Chi ins LeNa-Projekt. Etwa zwölf Sportbegeisterte finden sich dafür zusammen: „Habt ihr geübt?“, fragt Übungsleiterin Lisa Wong am Anfang. Es wird gekichert, denn die meisten haben es mit dem Training nicht ganz so ernst genommen und freuen sich einfach auf die gemeinsame Zeit. Mit sanften Bewegungen wird der ganze Körper gelockert, um die Lebensenergie wieder zum Fließen zu bringen. Trainerin Lisa Wong kommt einmal pro Woche für ihre Tai-Chi-Stunde ins LeNa-Haus – ehrenamtlich versteht sich. Mit ihrem Engagement will sie ihre Begeisterung für die chinesische Bewegungstherapie weitergeben: „Ich hatte eine schwere Erkrankung. Nach meiner Genesung habe ich meinen Körper mit Tai-Chi gestärkt. Dieses Wissen möchte ich teilen. Vor allem aber soll es Spaß machen.“

Lisa Wong gibt bei LeNa Tai-Chi-Kurse für Seniorinnen und Senioren.

Fließende Bewegungen und ganz viel Spaß: Tai-Chi- Kurs bei LeNa in Barmbek

NEUE KONTAKTE KNÜPFEN – SO KLAPPT’S

Von Brettspielen bis Stricken

Die Bücherhallen Hamburg bieten mehr als frischen Lesestoff. Schach spielen, Englisch lernen, Schals stricken, der Veranstaltungskalender
ist prall gefüllt. Wer nicht gut zu Fuß ist, lässt sich von Medienboten Romane und Krimis nach Hause bringen. Einen Schnack gibt’s obendrauf.

Von Akrobatik bis Wasserball

Beim Sporteln gehört Austausch automatisch mit dazu. Tipp für Sparfüchse: Viele Vereine haben tolle Angebote und beim Hochschulsport Hamburg dürfen auch Gäste für vergleichsweise kleines Geld turnen, tanzen und boxen. Sport ist außerdem gut gegen den Winterblues!

Von Gassigehen bis Kuscheln

Tiere machen glücklich — und tierische Gesellschaft gibt’s in Hamburg auch ohne eigenes Haustier. Apps wie Patzo vermitteln etwa Hundepatenschaften. Oder Sie engagieren sich beim Kinderbauernhof Kirchdorf oder den Pfoten-Buddies, der Haustierhilfe des Arbeiter-Samariter-Bunds Hamburg.

Titelgeschichte

  • Kommt zusammen: Ideen gegen Einsamkeit

    Über Einsamkeit spricht niemand gern, dennoch ist sie für viele Realität. Neue Verbindungen zu knüpfen, kostet manchmal Überwindung – doch zu spät ist es nie. Wie es klappen kann.

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  • Vom Glück im Beet

    In vielen Ecken Hamburgs verwandeln fleißige Hände Hinterhöfe und Brachen in wahre Oasen. Win-win für alle: Gemeinsames Gärtnern ist gut für die Seele und zaubert Grün in die Stadt.

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  • Weltquartier

    Vor rund zehn Jahren hat die SAGA das „Weltquartier“ in Wilhelmsburg fertiggestellt. Die WIR gemeinsam hat damals über die große Modernisierung und das Leben im Quartier berichtet. Wie hat sich das Leben dort seither entwickelt und wie geht es den Bewohnerinnen und Bewohnern heute? Wir haben sie wieder besucht.

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